Die Impfkampagne gegen Covid-19 rollt, für die Vakzine gelten strenge Temperaturanforderungen. Über die Rolle der Pharmalogistiker bei dieser Mammutaufgabe spricht Christian Specht, Geschäftsführer des European Instituts of Pharma Logistic (EIPL), im Interview mit Frischelogistik.
Die temperaturgeführte Pharmalogistik ist durch den Covid-19-Impfstoff von Biontech jäh ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit katapultiert worden. Wie schlägt sich die Branche nach Ihrer Meinung?
Die Branche schlägt sich gut. Leider wird die verfügbare hohe Leistungsfähigkeit der sehr gut aufgestellten mittelständigen Pharmalogistik noch nicht komplett mit abgerufen. Dies hängt mit den aktuell vorherrschenden unabgestimmten föderalen Alleingängen zusammen, die wir bei dem Thema Logistik haben: Der Mittelstand bleibt zu großen Teilen außen vor, die großen Player kommen zum Zug. Hierbei geht es momentan um die Abwicklung der europaweiten, zum Teil weltweiten Lieferungen. Für die Verteilung des Impfstoffs vom Zentrallager an die 27 Verteillager der Bundesländer ist der Bund zuständig. Das passiert im aktuell bei für den Biontech-Impfstoff benötigten Bereich -70 °C , hier sind hauptsächlich die großen Logistiker tätig. Die Verteilung der Impfstoffe von den Verteillagern der Bundesländer zu den Impfzentren wird von den Bundesländern organisiert. Hier kocht dann jedes Bundesland ein eigenes »Logistik-Süppchen«, und wir wissen ja, viele Köche verderben den Brei. Das Problem ist aus meiner Sicht: es wurden in jedem der 16 Bundesländern Beamte zu Logistikleitern ernannt, die mit Sicherheit einen guten Job machen, aber nun mal keine Logistikexperten sind. Es ist teilweise schon anmaßend zu denken, dass man da mal einfach jemanden benennt, der sich jetzt um die Logistik kümmert, dass wird dann schon reibungslos laufen. Dafür ist das Thema Logistik und insbesondere Pharmalogistik einfach viel zu komplex. Eine strategische Planung, mit Unterstützung durch unabhängige Logistikexperten, wäre ein zielführender Lösungsansatz. Nun hat jedes Bundesland sich seine eigene Lösung »gebastelt«. In vereinzelten Bundesländern werden gut aufgestellte Pharmalogistiker eingesetzt, da läuft es größtenteils problemlos, aber eben nur punktuell.
Wie vertraut ist die Pharmalogistik eigentlich mit Temperaturen von um die -70 °C?
Der größte Teil der Medikamente wird im Bereich zwischen 15 und 25 °C transportiert. Vielleicht 10 bis 20 Prozent vom Gesamtvolumen werden im Bereich 2 bis 8 °C transportiert, unter anderem die klassischen Impfstoffe wie der Grippeimpfstoff. Dann haben wir noch den Tiefkühlbereich von -25 °C, das sind zum Beispiel häufig Blutplasma-Produkte. Die -70 °C sind keine Standardtemperatur in der Pharmalogistik. In Einzelfällen ist sie vorgekommen, zum Beispiel bei Transporten für klinische Studien und im Bereich der chemischen Transporte.
Dieser Einzelfall ist beim Biontech-Impfstoff nun plötzlich Alltag. Kann das gut gehen?
Beim Aufsetzen der Supply-Chain für die Verteilung des Impfstoffs wurde meiner Meinung nach nicht weit genug gedacht und man ist in einen gewissen Aktionismus verfallen: Man hat sich zu sehr auf einen Impfstoff und diese tiefen Minustemperaturen fokussiert.
Ein guter Ansatz wäre, die Lieferketten direkt für den Temperaturbereich 2 bis 8°C aufzubauen. Ich kann jeden Punkt in Deutschland von einem Zentrallager aus innerhalb von wenigen Stunden erreichen. Der Biontech-Impfstoff ist nach dem Auftauen bei 2 bis 8 °C circa fünf Tage haltbar. Man hätte also den Weg gehen können, den Impfstoff im Zentrallager aufzutauen und vorzubereiten und ihn dann punktuell auf Anforderung zu liefern. Wenn er zum Beispiel heute bis 15 Uhr bestellt wird, gehen nachts oder am nächsten Tag morgens früh um 6 Uhr die Fahrzeuge raus, sodass die Impfstoffe morgens, mittags oder spätestens nachmittags überall in Deutschland verfügbar wären. Am nächsten Tag kann geimpft werden, da sind bei fünf Tagen Haltbarkeit bei 2 bis 8 °C immer noch, je nach Ort und Lieferzeit, zwei bis vier Tage Reserve gegeben. Dies umzusetzen wäre überhaupt kein Problem. Denn bei 2 bis 8 °C sind wir in einem Bereich, den die Pharmalogistik gut kennt. Hier haben wir ein breites Feld von gut aufgestellten Logistikdienstleistern mit qualifiziertem Equipment und gut geschultem Personal.
Welche Folgen hat die Entscheidung für eine tiefkalte Logistik bis in die Impfzentren?
Wir hören ja ständig aus Presse und Fachkreisen von großen Problemen in den Impfzentren, was das Handling der Impfstoffe betrifft. In den Impfzentren bedeutet die derzeitige Anlieferung bei -70 °C, dass das Auftauen vorbereitet und überwacht werden muss. Die Folge ist eine höhere Personalbindung. Aus Verzweiflung greift man hier teilweise nicht auf Pharmazeutisch-Technische Assistentinnen und Assistenten, sondern auf Zeitarbeitskräfte zurück. Zusätzlich brauchen die Impfzentren die technische Ausstattung, um den Impfstoff zu lagern, aufzutauen und zu überwachen. Hier könnte man sich durch einen zentralen Lösungsansatz einige Probleme sparen. Bei einer zentralen Lösung könnte man im Vorhinein auch schon die Lieferkette für andere Covid-19-Impfstoffe aufbauen. Man wusste ja, dass weitere Impfstoffe dazukommen würden, die bei ganz anderen Temperaturen transportiert und gelagert werden können.
Der mittlerweile ebenfalls zugelassene Moderna-Impfstoff zum Beispiel wird bei -25 °C gelagert, das ist eigentlich schon Standard in der pharmazeutischen Welt. Und wenn der Moderna-Impfstoff aufgetaut ist, kann er bis zu 30 Tage bei 2 bis 8 °C gelagert werden, was ebenfalls einer zentralen Lösung entgegenkommt.
Solche Anforderungen haben wir in anderen Bereichen auch. Wenn Apotheken einen Impfstoff für Grippe bestellen, dann wird dieser ja auch beim Großhändler bestellt und wird am Nachmittag oder am nächsten Tag geliefert. Der Covid-Impfstoff von Astra Zeneca kann bei 2 bis 8 °C sogar bis zu sechs Monate lang gelagert werden. Das sind quasi Standardanforderungen wie bei vielen anderen Medikamenten und Impfstoffen.
Statt einer einheitlichen Supply-Chain aus einem Zentrallager bei 2 bis 8 °C werden wir jetzt zwei oder drei Logistikschienen parallel laufen haben, eine bei -70 °C, eine bei -25 °C und dann eine bei 2 bis 8 °C. Das birgt große Gefahren im Prozess für den Impfstoff und die Terminierung. Es musste schon jetzt Impfstoff vernichtet werden. Wenn wir also weiterdenken, kann es somit im Umkehrschluss die Herdenimmunität verzögern und damit auch Menschenleben kosten.
Gab es im Vorfeld keine Beratung für die Behörden?
Mir ist nicht bekannt, dass Expertenrat eingeholt wurde, der Prozess wurde so aufgesetzt. Die Beratung hat wahrscheinlich über die Ausschreibungen mit Focus auf -70°C stattgefunden. EIPL ist in einer Arbeitsgruppe mit verschiedenen anderen namhaften Unternehmen, dieses Expertengremium hat den Bundesländern angeboten, beratend zu unterstützen, und zwar pro bono. Dieses Angebot wurde aber bei der Fokussierung auf die -80 °C erst mal nicht berücksichtigt – wir warten momentan ab, ob dies gegebenenfalls nicht doch noch angenommen wird. Expertenrat, Erfahrung und Unterstützung ist, was wir anbieten können, er muss natürlich auch angenommen werden.
Seit einigen Jahren nun bewegt die Richtlinie zur Good Distribution Practice (GDP) die Pharmalogistik. Hat das die Branche besser auf die große Herausforderung des Impfstofftransports vorbereitet?
Ja. Mittlerweile ist das Thema GDP gut umgesetzt. Natürlich, es gibt immer noch Unternehmen, die hinterherhinken. An manchen Stellen wird GDP zu lax gehandhabt, insbesondere bei der Unterbeauftragung. Der Logistiker ist selbst gut aufgestellt in Sachen GDP, verteilt den Auftrag aber an Subunternehmen und Subsubunternehmen, die diese Anforderungen nicht oder nur unzureichend erfüllen. Aber im Großen und Ganzen haben wir eine sehr leistungsstarke, gut aufgestellte Pharmalogistik. Ich behaupte, unsere Pharmalogistik ist einer der weltweit leistungsfähigsten in Bezug auf Qualität und strukturierte Prozesse. Insbesondere der Mittelstand ist hier vorbildlich. Man muss ihm aber die Chance geben, diese Leistungen auch zu erbringen. Genau das sehe ich aktuell leider nicht.
In der Anfangszeit von GDP war ja auch die Frage der Überwachung der GDP-Anforderungen durch die Behörden ein Thema. Läuft das jetzt rund?
Der Logistiker wird ja nicht durch die Behörde überwacht, sondern der Großhändler oder der Hersteller. Diese müssen wiederum nachweisen, dass ihre Logistik GDP-konform organisiert ist. Da haben wir stellenweise auch noch einige offene Baustellen. Ich sehe das ganze Thema der Unterbeauftragung sehr kritisch. Wie schon gesagt, es sind leider noch einige Unternehmer unterwegs, die die Anforderungen nicht oder nur teilweise erfüllen und trotzdem pharmazeutische Produkte transportieren. Das führt natürlich zu einem gewissen Unmut bei den gut aufgestellten Transportdienstleistern, die viel Zeit und viel Geld investieren, um die Anforderungen zu erfüllen. Denn Unternehmer, die diese Anforderungen nicht erfüllen, agieren preislich ganz anders am Markt, dies wirkt stark wettbewerbsverzerrend. Die größte Gefahr sehe ich dabei aber auf jeden Fall im Bezug auf die Patientensicherheit. Nichtsdestotrotz sind wir auf einem guten Weg. Qualität wird sich durchsetzen, das war schon immer so. Wir arbeiten auf jeden Fall daran.
Wie sehr schocken auch vor dem Hintergrund dieser vielen Investitionen der Branche in den letzten Jahren Bilder wie die aus Bayern, wo die mobilen Impfteams mit besseren Campingkühlboxen losgeschickt wurden?
Prinzipiell muss man sagen, dass Campingkühlboxen so schlecht gar nicht sind, wie sie aktuell in der Presse dargestellt werden. Sie müssen natürlich auf Ihren Einsatzzweck hin modifiziert und qualifiziert werden. Die Box, die in Bayern eingesetzt wurde, ist vermutlich eine Standardbox, die ist für diesen Einsatz technisch nicht geeignet – ganz klar! Ich bezweifele auch, dass sie qualifiziert ist. Ich kann schlecht beurteilen, ob man hier rein aus Kostengründen eine günstige Box eingesetzt hat, die nicht qualifiziert, also im Vorfeld nicht wirklich getestet wurde.
Was an dieser Stelle nicht verstehen kann: wir haben die GDP und weitere klare Gesetze und Richtlinien hierzu – und der Staat hält sich selbst nicht an diese Vorgaben. Der Staat ist hier sehr »hemdsärmelig« unterwegs. Wenn eine Überwachungsbehörde pharmazeutische Unternehmer auditiert und die würden einen Dienstleister einsetzen, der diese Anforderungen nicht erfüllt, gäbe es einiges zu klären, bis hin zum Entzug der Großhandels-Erlaubnis. Das Signal von staatlicher Seite in die Branche ist hier absolut kontraproduktiv.
Hätte es denn kurzfristig genügend qualifizierte Hardware gegeben?
Ja, definitiv. Es gibt zahlreiche Anbieter am Markt. Auch wir bieten entsprechende Boxen von 40 bis 1500 Liter, die für die Temperaturbereiche 2 bis 8 °C, 15 bis 25 °C oder -25 °C geeignet und qualifiziert sind. Die Boxen wurden alle in Anlehnung an die aktuelle Din Spec vollständig qualifiziert oder können kurzfristig qualifiziert werden. Sie kommen dann mit den entsprechenden Prüfberichten und Zertifikaten. Diese Boxen sind alle sehr gut isoliert und können bei 12, 24 und 110/230 Volt heizen und kühlen. Sie halten die Temperatur knapp 1,5 Grad um den Setpoint herum konstant. Das heißt, das System ist jederzeit zwischen diesen 2 bis 8 °C beim Setpoint 5°C. Es ist ausgestattet mit einem aktiven Temperatur-Monitoring, mit dem der Anwender jederzeit online sehen kann, was gerade passiert, wo die Box ist, welche Temperatur sie hat. Hier reden wir bei einer 81 Liter Box jetzt nicht über fünfstellige Beträge, wir reden über zwei- bis zweieinhalbtausend Euro pro Box. Das sind jetzt keine Summen, wenn man bedenkt was es kostet, wenn 50 Dosen Impfstoff unbrauchbar werden und die entsprechenden Impftermine abgesagt werden müssen.
Ist das Monitoring der aktuellen Covid-Impfstofflogistik denn auf dem Stand der Technik?
Ein aktives Tracking-System ist bei diesen tiefen Temperaturen in kleineren Boxen nur schwer realisierbar. Die Lebensdauer der Batterien eines aktiven GPS/GPRS Trackers bei diesen tiefen Temperaturen in den Trockeneis-Boxen ist eher gering. In den Trockeneis-Behältern sind Trockeneis-Sensoren, diese sind relativ teuer und müssen manuell ausgelesen werden. Ein daraus resultierender Nachteil ist, ich kann nur reagieren, nicht agieren: Nach dem Transport wird der Logger aus der Box genommen und man sieht erst dann, ob die Temperaturen eingehalten wurden – oder eben nicht. Dies sind nur zwei der vielen Nachteile, die diese -70 °C mit sich bringen, die es im Temperaturbereich 2 bis 8 °C so nicht gibt; in diesem Bereich kann ich auf bewährte Systeme zurück greifen, die die Lieferkette sehr transparent halten und damit für Sicherheit sorgen.
Kann man abschließend schon jetzt erste Lehren aus der Impfstofflogistik-Kampagne ziehen?
Die erste Lehre ist wie immer, dass kopflose irgendwo hereinlaufen und Probleme erst dann lösen zu wollen, wenn sie wirklich da sind, nicht optimal ist. Es hat die strategische Planung im Vorfeld gefehlt. Ob wir daraus eine Lehre ziehen, kann ich noch nicht sagen. Man hätte aus der Maskenbeschaffung im Frühjahr eine Lehre ziehen können. Aber es wiederholt sich dann doch, dass die strategische Planung fehlt und wir, gerade von staatlicher Seite, in so einen Aktionismus hereinrutschen. So kann ein Unternehmer heute nicht arbeiten. Aber da kommen wir eben auch in innenpolitische Themen herein. Man muss natürlich dazu sagen, dass dies eine Situation ist, die nicht alltäglich ist. Es muss sich jetzt alles auch noch etwas einspielen. Ich will auch kein großes Behörden-Bashing betreiben, aber man hat Zeit gehabt, man wusste, dass der Impfstoff kommt beziehungsweise zeitnah verschiedene Impfstoffe zur Verfügung stehen. Etwas mehr strategische Planung im Vorfeld, statt einer Hauruck-Aktion, in Verbindung mit Expertenrat hätte die Situation wesentlich entspannt.
Die Fragen stellte Marcus Sefrin.